Der Begriff τέχνη bei Plato

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Preface

Abgesehen davon, daß das Wort τέχνη in der griechischen Literatur überhaupt und so auch bei Plato in den mannigfachsten Bedeutungen vorkommt, spielt speziell in Platos Lehre die τέχνη eine besondere, bedeutsame Rolle. Schon Sokrates stützt sich für die Fragen der ethischen Erziehung und zur Bestimmung der ethischen Norm vielfach auf das Beispiel der übrigen τέχναι. Plato, der als erster eine wissenschaftliche Erkenntnis von den Werten, von der ἀρετή und von dem ethischen Verhalten der Seele anbahnt, nimmt dabei die Forderungen, die man an eine exakte τέχνη damals stellte, durchweg ausdrücklich zum Vorbild.

Wissenschaftslehre. So gewinnt er die Prinzipien der gegen die Willkür der Sophisten und der bloßen Alltagsroutine zu fordernden strengen Wissenschaftlichkeit der Untersuchung an dem Vorbilde derjenigen τέχνη, die sein Denken nächst der Mathematik am meisten beeinflußt hat, der τέχνη ἰατρική, von der er die Kriterien der Wissenschaftlichkeit ableitet, nämlich a) die Kenntnis der φύσις, b) die Kenntnis der αἰτίαι und c) das Vermögen des λόγον διδόναι. Verwandte oder übereinstimmende wissenschaftliche Postulate in der erhaltenen älteren Ärzteliteratur lassen seine besondere Abhängigkeit von der hippokratischen Richtung vermuten. Indem er dann im weiteren Verlauf diese Forderungen, vor allem die des λόγον διδόναι, immer spezieller im Sinne seiner eigenen dialektischen Methode entwickelt, gibt er ihr freilich einen durchaus neuen Inhalt, der nicht aus irgendwelchen anderen damaligen τέχναι abzuleiten ist.

Rhetorik. Diese Prinzipien der Wissenschaftlichkeit überträgt er im Phaedros auf die Rhetorik. Die drei Erosreden dieses Dialoges bilden eine jedesmalige Steigerung im Grade der Wissenschaftlichkeit, der τέχνη. Unter Ablehnung dessen, was in den Τέχναι der zünftigen Rhetoren gelehrt wurde, entwickelt Plato hier die Grundsätze einer in seinem Sinne “technischen” Rhetorik ganz in Parallele zu den Grundsätzen der “technischen” Medizin.

Tugendlehre. Das von ihm gesuchte objektive Prinzip für den Aufbau des Systems der menschlichen ἀρετή findet er, indem er medizinische Vorstellungen, aus denen heraus er die ἀρεταί des Körpers aufgestellt hat, vom Körper auf die Seele überträgt und die ἀρεταί ganz analog den ἀρεταί des Körpers aufbaut. Hier wird die theoretische und praktische Medizin in gewisser Hinsicht auch inhaltlich zum Vorbild der ethischen ἕξις und ihrer Behandlung. Die ἀρετή wird in Zusammenhang gebracht mit den Begriffen der τάξις und der ἁρμονία (συμμετρία) ψυχῆς. Dadurch gewinnt die sokratische und sophistische Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend, und ob sie ein Wissen sei, ein neues Aussehen für Plato. Die Ethik wird damit erst eigentlich als τέχνη begründet.

Staatslehre. Auch die πολιτική soll eine τέχνη sein. Diesen Begriff entwickelt der Politikos in interessanter Weise. In theoretischer Beziehung wird von ihr ein Wissen um die höchsten Werte verlangt. Soweit sie jedoch eine praktische Einwirkung auf die Seelen der Menschen ist, soll ihre Behandlungsweise, ebenso wie in der Medizin, eine individuelle sein, d.h. jedem Einzelfall sich anpassen. Über den starren νόμοι soll die τέχνη, das produktive Wissen des wahrhaften φιλόσοφος, stehen. So ergibt sich als beste Staatsform die Monarchie des Philosophen. — In ethischer Beziehung ergibt sich, daß einziges Ziel der πολιτική das Gute, nicht egoistisches Interesse des Staatsmannes, sondern das wahre Wohl des Staates ist. Denn zum Wesen einer jeden τέχνη gehört es, daß sie ein bestimmtes ἀγαθόν wirkt. (Die gewöhnliche Rhetorik ist z.B. deshalb keine τέχνη, weil sie kein ἀγαθόν als Ziel hat und kein sachliches Wissen besitzt). — Wie bei der Behandlung der einzelnen ψυχή wird von der πολιτική die Richtung auf τάξις, auf Harmonie und Ordnung, gefordert. Der Staat soll einem harmonischen Organismus gleichen, der dann am besten gedeiht, wenn jeder τὰ αὑτοῦ πράττει. {1|2}